Karenina.it Theories:
Mail Art
Background: Emmet Williams (for the Wandering Library
Project)
MAIL ART /
CORRESPONDENCE ART – EINE KÜNSTLERISCHE UNBEDEUTENDE RANDAKTIVITÄT ODER EIN
ERNSTZUNEHMENDES BETÄTIGUNGSFELD FÜR FREIE KOMMUNIKATION ZWISCHEN DEN VÖLKERN ?
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VON DR. KLAUS GROH -
„Könnten Sie sich eine Welt ohne Briefe vorstellen? Ohne
gute Seelen, die Briefe schreiben, ohne andere Seelen, die diese Briefe lesen
und sich daran laben, eine Welt ohne Absender, Empfänger und Briefträger
?? Der einzige Ort, wo ich mir eine
derartige Welt vorstellen kann, es ist der Hades; ich habe beglaubigte
Nachrichten, dass die Ober- und Unterteufel einander nie schreiben". 1.)
Dass Briefe und das Briefschreiben ein Medium der
Massenkultur ist, daran besteht kein Zweifel. Dass aber die Auseinandersetzung
mit dem postalischen Kommunikationsphänomen etwas mit Kunst zu tun haben soll,
das ist schon merkwürdig.
Neben den „alternativen“ künstlerischen Äußerungen, im
Gegensatz zu den tradierten ästhetischen Kunstpraktiken, hat sich seit den
50er/60er Jahren eine Abwendung vom Werk-Gegenstand, also eine Abwendung von
der autonomen Existenz eines in sich geschlossenen ästhetischen Produktes,
vollzogen, hin zu Kunstprozessen, in deren Verlauf Spuren zurückbleiben, als
Reste, als Abfälle, als Denkauslöser
von kurzer LEBENSDAUER: das Happening, das experimentelle Theater, der
Aktionismus oder die Performance-Art sind hier zu nennen. Das Dreieck
„Künstler-Werk-Galerie-Sammler“ wurde zerstört. Es entstand ein neues, in der Kunst bis dahin recht ungewöhnliches
Bezugsdreieck „Künstler-Werk-Empfänger“, wobei der Empfänger nicht anonym,
bleibt, sondern auch als Reagierender
direkt in den Kommunikationsprozess dann auch in umgekehrter Weise einschalten
kann, d.h., der Empfänger wird Künstler und der Künstler wird Empfänger, und
das im endlosen Wechselspiel. Der übliche konsumierende Empfänger,
Kunstbetrachter, einer ästhetischen Botschaft wird aktiver reagierender
Empfänger und somit Teil des ästhetischen Kommunikationsprozesses.
„Bei der Mail Art geht es um
die Handlungsbereiche: Herstellen – Absenden – Empfangen - Weitermachen“.2.)
Ob die Mail Art im tradierten
Kunstkanon jemals eine Stimme haben wird, ist ungewiss; ob sie im
kommerzialisierten Kunstaustausch irgendwann einen Tauschwert haben wird, ist noch ungewisser. Ganz sicher allerdings kann man feststellen, dass die
Mail Art als eine allgemeine humane interpersonelle Resonanz im sozialen
Handlungsraum nicht überhörbare Signale abgibt. Stimulierend dafür ist weder
eine akademisch ästhetisierende Komponente, noch irgendein anderes Merkmal der
ästhetischen Tradition, sondern die einzige Orientierung ist die soziale
Realität. In der festgefahrenen fremdbestimmten sozialen Umwelt geht es den
Mail Art Künstlern in erster Linie um eine Wiederherstellung des menschlichen
Dialogs (Kommunikation), es geht um eine breite Demokratisierung von
Sinneserlebnissen.3.)
Das „künstlerische“
Kommunikationsschema der Mail Art[KG1]:
=Sender = Nachrichtenträger Aufkleber, Zeichnung = Empfänger
Schrift/
Text/Collage
ist Foto, Kopie,
Druck ist
=Ausdrucksmittel
Rezipient Brief
/ Postsache Künstler
= Empfänger =
Nachrichtenträger =
Sender
Kommunikation auf dem Postweg
Kunsthistorisch gesehen, ist die Mail Art nirgends einzuordnen.
Berührungsstellen zu Dada, zu Fluxus, zu Nouveaux Realism und zur visuellen und
konkreten Poesie sind feststellbar, aber nicht die Wurzeln oder Vorläufer. Es
gibt auch nicht DIE Mail Art, EINE Ausdrucksform oder EINEN Stil. Mail
Art ist „ eine Geschichte der Einstellung und Leben, und innerhalb des Mail
Art Netzes sind sehr verschiedene und gegensätzliche
Vorstellungen vorhanden“4.) Ihre Existenz verdankt sie zunächst einmal
dem Bedürfnis, aktuelle Möglichkeiten der ungewöhnlichen Kulturproduktion zu
erforschen, wie es eigentlich alle Neuerungen in der Kunst, aber auch woanders,
zum Inhalt haben. Das gezielte Anvisieren einer Gestaltung elementarer
Kommunikations- und Artikulationsformen.
Mail Art wird mit „KUNST“ in
Verbindung gebracht, weil sie schöpferische Kräfte mobilisiert, aber auch
demokratisiert, was fast alle Kunstspielformen davor in der Weise nicht
fertiggebracht haben, abgesehen von einigen provozierten vorprogrammierten
Reaktionen des Publikums bei Happenings, Aktionen, Performances oder
Installationen, wo die Mitbeteiligung des Publikums vom Künstler bereits
kanalisiert wird. Schöpferische Eigentätigkeit fehlt hier weitgehendst und
Spontaneität wird vorgetäuscht.
Eine der wichtigsten
Funktionen von Kunst, das Leben immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen, hat
sich gewandelt. Nie war das Kommunikationsbedürfnis des Menschen zu wichtig und
entscheidend wie gerade heute. Deshalb muss schöpferisches Spielen und
Mitspielen dort angeboten werden, wo für jeden Entdeckungen im Bereich der
Sinneswahrnehmungen gemacht werden können. Das Spielfeld muss im Alltag
beheimatet sein, der Handlungsspielraum muss bekannt sein, die Medien müssen
allen zugänglich sein. Die Mail Art zeigt nicht Wege, auf denen man gehen kann
oder gehen muss, sie zeigt, dass man überhaupt gehen kann. Und zwar jeder, der
schreiben und lesen kann, eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für
menschliches Existieren überhaupt, ist potentieller Akteur.
Eine Reaktion ( wie es üblich
ist) vor einem Kunstwerk ist nicht der Abschluss des Wechselspiels zwischen
Kunstwerk und Betrachter, sondern die Reaktion schlägt bei der Mail Art um in
eine Aktion, und zwar in eine aktive, kooperierende, materiale Aktion. In
keiner Kunstform vor der Mail Art ist der Kreis derer, die aktiv integriert sind, nicht nur bewundernd, so
weltweit, so international, so groß gewesen. Mail Art gibt es in allen
Erdteilen, in abgelegenen Orten wie in Großstädten, im Osten wie im Westen, in
jedem politischen und gesellschaftlichem
System, in jeder Altersgruppe. Die Mail Art ist ein soziales Phänomen. Robert
Rehfeldt, ein viel zu früh verstorbener Künstler, der seine Mail Art
Aktivitäten in der damaligen DDR auf ein qualifiziertes Höchstmaß gebracht hat,
schrieb: „Ein wesentlicher Bestandteil (der Mail Art) aber scheint mir zu sein,
dass Menschen, Künstler und auch Laien, die sich persönlich gar nicht kennen,
über große Entfernungen hinweg näher kommen im Sinne der Völkerverständigung,
indem sie Zeichen geben für ein friedliches Nebeneinander, bei aller
Unterschiedlichkeit ihre4r Auffassungen. Künstler waren immer die ersten Signalboten, wir sollten es so
werten, am besten gleich, frankiert und frei Haus“.5.)
Die Mail Art ist eine Methode,
schöpferische Kräfte freizulegen, Mut zu machen, öffentlich sich mit seinem Tun
zu identifizieren, bereit zu sein, mit anderen über seine Ideen zu
kommunizieren.
Man könnte das System der Mail Art in vier Felder
gliedern, um dem ganzen eine Struktur zu geben, aus der hervorgeht, dass es
nicht nur offenes Spielen mit einem Medium ist. Es geht um
Und das passiert von
einfachen spielerischen Kritzeleien als
verträumtes Spielen mit dem Schreibwerkzeug bis hin zum zwanglosen Sich-Äußern
zu irgendeinem Alltagsgedanken. Spaß gehört ebenso dazu wie der ernsthafte
Gedanke.
Dass vor der weltweiten
Öffnung der politischen Systeme die Mail Art in Lateinamerika und im gesamten
Ostblock die einzige grenzenüberschreitende Kontaktmöglichkeit mit
„Gleichgesinnten“ bedeutete, ist ein Aspekt dieser künstlerischen Spielform,
der nicht hoch genug gewürdigt werden muss.
1.) Pedro Salinas ( spanischer Schriftsteller 1892 – 1952) in: „ Die Verteidigung der Briefe“, aus „Werbung der Deutschen Bundespost“ ohne nähere Angaben.
2.) Klaus Werner, Ausstellungskatalog „Postkarten & KÜNSTLERKARTEN“, Galerie Arkade, Berlin, Nov. 1978, S. 18
3.) vgl. Joachim Fiebach, „Kreativität und Dialog“ Berlin, 1983, S. 15 ff
4.) Mike Crane „Eine Geschichte der Correspondence Art“ ( nicht erschienenes Manuskript), New York, 1984
5.) Robert Rehfeldt, „Kunst frei Haus“ Ausstellungskatalog „Postkarten & Künstlerkarten“, Galerie Arkade, Berlin, Nov. 1978, S. 84
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